„Manche Kunden haben wir täglich immer nur für einen Moment gesehen: Ein kurzer Gruß, Medikamente richten, und weiter geht’s zum nächsten Termin. Zeit, um mal zuzuhören, bleibt in der Ambulanten Pflege nur selten“, so Valerie Haag, Abteilungsleiterin der Mobilen Dienste. Den eng getakteten Tagesablauf kennen sie und ihre Kolleginnen des Pflegedienstes der Paritätischen Sozialdienste zu gut.
Die Aussicht, über das Pilotprojekt „Neue Pflege“ mehr Zeit für ihre Klient*innen zu bekommen, weckte sowohl Freude, aber auch Skepsis. Zusätzliche Unterstützungsangebote sollten damit ermöglicht werden. Können sie sich einfach mal dazu setzen und ein bisschen plaudern? Gemeinsam nach weiteren Versorgungsmöglichkeiten schauen? Dazu ermutigen, alte Kontakt zu reaktivieren und neue zu knüpfen? Aber wie fügt sich diese neue Zeit in den Dienstplan? Werden Erwartungen bei den Klient*innen geweckt, die gar nicht erfüllt werden können? Welche neuen Aufgaben kommen auf einmal auf die Pflegekräfte zu? Wie wird diese Unterstützung dokumentiert?
In Teamsitzungen und begleitendem internen Coaching bereiteten sich die teilnehmenden Pflegekräfte auf die neuen Möglichkeiten vor. Und drei Monate nach Beginn gibt es Überraschendes zu berichten – z.B. von der Pflegefachkraft Anna Becker: „Endlich weiß ich, warum die Klientin manchmal so abweisend reagiert. Sie hat mir nach und nach ihre Lebensgeschichte erzählt. Vieles ist klarer geworden. Jetzt können wir besser auf sie zugehen und wissen ihr Verhalten einzuordnen.“ Einige Klient*innen bereiten sich extra auf die zusätzlichen Besuche vor: Sie machen sich schick, lassen vom Bäcker Teilchen besorgen und setzen Kaffee oder Tee auf. Mit einer Klientin konnte der Kontakt zur Familie wiederhergestellt werden und die Enkelin besuchte daraufhin nach vielen Jahren die Großmutter. Sogar Wünsche wie „Ich würde so gerne mal wieder in den Zoo“ können jetzt in die Wege geleitet werden.
Nicht immer werden die 30 Minuten pro Klient*in direkt mit diesen verbracht. Darin enthalten ist auch die Zeit für Organisatorisches oder das unterstützende Coaching.
„30 Minuten! Richtig viel Zeit, hatte ich am Anfang gedacht! Mittlerweile merke ich natürlich, dass ich für manche noch mehr Zeit gebrauchen könnte. Aber ich kann jetzt viel besser als zuvor auf die Menschen eingehen. Das gibt mir ein gutes Gefühl.“
Die Neue Pflege schenkt also nicht nur den Pflegebedürftigen eine neue Erfahrung, sie entlastet auch die angespannte Situation der Pflegefachkräfte. Der möglich gewordene menschlichere Umgang miteinander stärkt die Beziehung und das Vertrauen. Im besten Fall verbessert sie die Lebenssituation der Pflegebedürftigen sogar soweit, dass soziale Kontakte wieder aufgenommen und altersbedingte, gesundheitliche Verschlechterungen herausgezögert werden. Dass sie das in dieser kurzen Zeit der Umsetzung bereits erleben konnten, motiviert die Pflegekräfte enorm. Erfreut konnten die Paritätischen Sozialdienste als Arbeitgeberin schon die ersten Früchte ernten: Eine Pflegefachkraft bewarb sich gezielt aufgrund der Neuen Pflege und den damit einhergehenden verbesserten Arbeitsbedingungen.
Ermöglicht wird dieses Pilotprojekt durch einen Beschluss der Stadt Karlsruhe. Mit der Förderung einer „Innovativen Pflege“ möchte die Stadt über den gesetzlichen Rahmen der Pflegekassen hinaus sowohl Pflegebedürftige als auch Pflegende stärken. Das Konzept lehnt sich an den in den Niederlanden erfolgreichen „Buurtzorg“-Ansatz an und dient als Impuls für Innovationen in der ambulanten Pflege.
Auch die Badischen Neuesten Nachrichten berichteten über das Gespräch über die ersten Erfahrungen mit dem Pilotprojekt Neue Pflege der Paritätischen Sozialdienste:
„Eine Spanne Zeit für ganz persönliche Hilfe“.
Wir danken der Redakteurin Kirsten Etzold und der BNN für die Möglichkeit, den Artikel hier bereitzustellen.
Kompletter Artikel als PDF – mit freundlicher Genehmigung der Badischen Neuesten Nachrichten.